Adieu level playing field

Aufgabe:
„Bildet Kleingruppen und diskutiert, wie belastbar die Aussage ‚47% aller Arbeitsplätze sind bedroht!‘ aus eurer Sicht ist (M2, M3).“

Antizipierte Musterlösung im Lehrkräfteband:
„Individuelle Antwortmöglichkeiten. Um die Belastbarkeit einer wissenschaftlichen Untersuchung zu beurteilen zu können, muss der Aufbau der Untersuchung nachvollzogen werden. Die Wissenschaftler haben hier auf eine kleine Gruppe von Expertenschätzungen vertraut, welche Fähigkeiten als ‚automatisierbar‘ und ’nicht automatisierbar‘ eingeschätzt werden. Diese Expertenschätzungen können eine hohe persönliche Unschärfe besitzen und führen eher zu der grundsätzlichen Botschaft ‚unsere Arbeitswelt wird sich verändern‘ als der konkreten Aussage, dass ‚47% aller Arbeitsplätze in den USA bedroht sind‘. Nichtsdestotrotz ist die Betrachtung der ‚drei technischen Engpässe – Wahrnehmung und Handhabung, kreative Intelligenz und soziale Intelligenz‘- hilfreich, um den Veränderungsgrad für einzelne Berufsbilder einzuschätzen.“

Quelle: #Wirtschaft – Lehrermaterial, 2020, C.C. Buchner, Pos. 2006-2008.

Wie schön sich doch dieser Erwartungshorizont liest! Es wird nicht nur eine individuelle Schüler/innenlösung erwartet (offener Lösungsweg!), methodisch soll scheinbar auch eine Urteilsbildung anhand eines Diskussionsformates (Effektstärke des Faktors classroom discussion in der Hattie-Studie: 0,82!), inhaltlich soll auch Wissenschaftskritik geübt werden – also eine Königsdisziplin in Sachen kritischem Denken! Das Lehrer-, Forscher- und Didaktikerherz am Unischreibtisch schlägt höher! Aber ach: Die Aufgabe ist gar nicht lösbar, da sich im Material absolut kein Anhaltspunkt befindet, anhand dessen die Schülerinnen und Schüler eine solche oder ähnliche Argumentation herausarbeiten könnten. Sie müssten es einfach ohne Material tun – und das ist der Knackpunkt: Es wird in einem durchschnittlichen Kurs bestimmt einige (wenige) Schülerinnen und Schüler geben, die diese Aufgabe lösen können, aber das werden vor allem diejenigen sein, die eine Wissenschaftskritik entlang des Erwartungshorizontes qua Zufall der Geburt hinkriegen. Es werden eher nicht diejenigen Schülerinnen und Schüler sein, um die es uns im Unterricht auch gehen muss: nämlich um die mit den eher schlechten Startchancen. 

Nicht umsonst ist eine der ungeschriebenen Grundregeln der praktischen Didaktik: „Kein Material ohne Aufgaben“ – umgekehrt gilt das (fast) immer auch. Denn eine solche Grundregel sorgt zumindest ansatzweise für gleiche Wettbewerbsbedingungen: Ob jemand eine Aufgabe lösen kann, ist davon abhängig, ob er oder sie das Material rezipiert hat, nicht ob man im richtigen Stadtteil geboren wurde. Dass dann wiederum die Lesekompetenz asymmetrisch entlang des sozioökonomischen Hintergrundes verteilt ist, ließe auch bei vorhandenem Material das level playing field recht schief aussehen lassen. („Der Leistungsunterschied im Bereich Lesekompetenz zwischen Schülerinnen und Schülern mit günstigem sozioökonomischem Hintergrund und solchen mit ungünstigem Hintergrund ist in Deutschland beträchtlich“, OECD 2018). Zwar hat beispielsweise das Schulministerium in NRW vor fast 25 Jahren die Order ausgegeben, dass die „Förderung in der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern“ (MSWWF NRW 1999) anzusehen sei, so ist es doch nicht deren Kernaufgabe. Diese ist die Förderung von domänenspezifischen Kompetenzen, nicht der Lesekompetenz. Die Heimat der Lesekompetenz ist der Deutschunterricht. Dort sind die Lehrerinnen und Lehrer im Übrigen einschlägig ausgebildet – ich als Sowi-Lehrer bin es nicht und wehre mich gegen die Überfrachtung der Fächer mit unzähligen, den Fachkern aushöhlenden Querschnittsaufgaben.

Trotz oder vielleicht auch wegen dieser Asymmetrien sieht der Unterricht in etlichen Fächern – und die sozialwissenschaftlichen Integrationsfächer wie Sozialwissenschaften in NRW gehören dazu – aus wie Deutschunterricht in Verkleidung. Engartner, Hedtke und Zustrassen rufen in ihrer „Sozialwissenschaftlichen Bildung“ (2010) die Textanalyse gar als „Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt sozialwissenschaftlicher Bildung“ aus (ebd., S. 136). Empirische Analyse kommen dann auch zum Ergebnis, dass die Standardanforderung in etlichen ökonomienahen Fächern in den Bundesländern das Analysieren und Produzieren von Texten ist – vor allem spiegelt sich dies in den Schulbüchern der Oberstufe wider und vor allem in den so genannten sozialwissenschaftlichen Integrationsfächern, die unterschiedliche Disziplinen in einem Fach vereinen (Goldschmidt, Rehm, Kron 2024).

Schon 2007 kritisierte Frank Langner, damals Fachleiter für Sozialwissenschaften am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Köln: „[D]er Lernprozess [wird] weitgehend auf die Lektüre wirtschaftlicher Texte (Informationstexte und Kommentare) reduziert. […] Diese Monokultur zeichnet sich durch ein Übermaß an Textarbeit aus – und dies auch in solchen Fällen, in denen andere Herangehensweisen lernförderlicher wären“ (S. 47). Die Ökonomik ist dagegen mittlerweile in weiten Teilen eine Datenwissenschaft, in Teilen auch die Politikwissenschaft, aber auf jeden Fall seit jeher die Soziologie. Doch nicht genug, dass einseitig textzentrierter Unterricht offensichtlich fachlich nicht gerechtfertigt ist (und wahrscheinlich niemals war). Da die Qualität der mündlichen und schriftlichen Analysen und Textproduktionen einen großen Teil der Leistungsbewertung ausmacht, macht ein Schwerpunkt auf Textarbeit die Notengebung inhärent ungerecht. Sie bevorteilt diejenigen, die die relevanten Deutschkompetenzen aus dem Elternhaus mitbringen. Das komplette Fach Sozialwissenschaften verkommt so zum Elitenunterricht für den bildungsbürgerlichen Erbadel. Adieu level playing field.

Was wären diese „anderen Herangehensweisen“, die Langner bereits 2007 forderte und die sich bis heute ganz offensichtlich nicht materialisiert haben? Zumindest Personen mit unterschiedlichen Begabungen könnten dann zum sozialwissenschaftlichen Unterricht etwas beitragen, statt nur die Anwältesöhne und Ärtzetöchter, die von Hause aus ohnehin ein hohes Maß an Textverständnis und Textproduktionsvermögen mitbringen. Wie oben bereits angerissen, könnte das Fach Sozialwissenschaften beispielsweise das Kernfach der data literacy sein. Dazu gehört nicht nur das Erheben, Verarbeiten und Interpretieren von Daten im Sinne des forschenden und von mir aus auch fächerübergreifenden Lernens, sondern beispielsweise auch die fachliche Kritik der Datenerhebung, -verarbeitung und -interpretation – einem Aspekt, der selbst in der wissenschaftlichen Ökonomik vor manchmal herrschender Datennaivität zu kurz kommt (siehe Roberts 2017). Das wäre nicht nur sozialwissenschaftlicher Unterricht par excellence, sondern potentiell auch gerechter! 

Marco Rehm, ZÖBIS 2025

rehm@wid.wiwi.uni-siegen.de

Literatur:

Engartner, Hedtke, Zustrassen (2010): Sozialwissenschaftliche Bildung. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Paderborn.

Goldschmidt, Kron, Rehm (2024): Marktwirtschaft und Unternehmertum in deutschen Schulbüchern. Berlin und Potsdam. https://www.junge-unternehmer.eu/fileadmin/familienunternehmer/positionen/bildungspolitik/dateien/famu_jungu_schulbuchstudie_marktwirtschaft.pdf

Langner (2007): Modellbildung und Fallstudien zur europäischen Geldpolitik. In: Jacobs, Heinz (Hg.): Methodenbewusster Unterricht in Beispielen. Trappen-Texte 2,
Bad Honnef, S. 47-55.

OECD (2018): Ländernotiz. Programme for international student assessment (PISA). PISA 2018 Ergebnisse. https://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/PISA2018_CN_DEU_German.pdf

OECD (2019): PISA 2018 Results (Volume II), Annex B1, Table B1.2.4

Roberts (2017): What Do Economists Actually Know? Online veröffentlicht unter: https://shift.newco.co/2017/03/02/what-do-economists-actually-know/

C.C. Buchner, #Wirtschaft Lehrkräfteband, 2020

C.C. Buchner, #Wirtschaft Schülerband, 2020