Willkommen in der Echokammer von vorgestern: Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen.

Bist du ein homo oeconomicus?
[] Ich gehe mit Einkaufszettel einkaufen.
[] Ich informiere mich immer, bevor ich größere Anschaffungen machen.
[] Ich zähle immer jeden Cent nach und achte auf mein Kleingeld.
[] Ich vergleiche Preise, bevor ich mich für einen Kauf entscheide.
[] Ich kaufe ein Produkt nur, wenn ich absolut vom Nutzen überzeugt bin

Quelle: Westermann Verlag, Wirtschaft & DU, Gymnasien Sekundarstufe I, 2020, S. 36

Wer interessiert sich heute noch für den homo oeconomicus? Ganz offensichtlich Sowi-Lehrkräfte und damit notgedrungen auch deren Schüler/innen. Bei ökonomiekritischen Akademiker/innen wie Hedtke (2008, 2016) und anderen (z.B. Tafner 2020) ruft der homo oeconomicus regelmäßig reflexartige Schnappatmung hervor, die in der Warnung vor der verderbten Ökonomik münden, vor der die jungen Menschen zu ihren eigenen Seelenheil bewahrt werden müssen!

Riefe man dagegen „homo oeconomicus“ in die ökonomische Community hinein, würde man höchstwahrscheinlich allfälliges Achselzucken als Antwort ernten – und dies verdeutlicht ein größeres Problem: Aus fachwissenschaftlicher Sicht sind weite Teile des Kernlehrplans der Oberstufe im Fach Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen (und vermutlich anderer Bundesländer außer Bayern und Thüringen) vielfach überholt. Sie legitimieren sich über eine Fachkultur, die sich offensichtlich weitgehend verselbständigt hat und die „Das haben wir immer schon so gemacht!“ zum inoffiziellen Motto erhoben hat. Willkommen in der Echokammer von vorgestern!

Fangen wir bei drei inhaltlichen Punkten an, an die sich methodische und fachdidaktische Kritikpunkte anschließen:

  1. Homo oeconomicus
  2. Stabilitäts- und Wachstumsgesetz
  3. Pluralität vs. Theoriefixiertheit

Zu 1: Das „Homo-Oeconomicus-Modell“, wie man es bisweilen in Schulbüchern liest (auch die Seite des Materials oben ist überschrieben mit: „Der homo oeconomicus geht einkaufen – ein Modell wird hinterfragt“), ist in Schulbüchern der Sekundarstufe I und II und wenig überraschend auch in Kernlehrplänen allgegenwärtig. Es wird implizit als grundlegendes „Modell“ der Ökonomik dargestellt und in der Politikdidaktik teilweise unterstellt, dass es potenziell sogar als „ethische Handlungsanweisung missinterpretiert“ werde (Tafner 2020, S. 235), mit dem die Schülerinnen und Schüler möglicherweise indoktriniert würden. Der homo oeconomicus ist aber keine „Theorie“ und kein „Modell“. Er ist ein Annahmenbündel, das für die Theoriebildung v.a. in der Chicago-School seit den1960er Jahren wichtig war. Was er ebenfalls nicht war, ist eine vollumfängliche Annahme über das Verhalten von realen Menschen – anders als der Schulbuchausschnitt oben ihn offensichtlich versteht. Der homo oeconomicus ist mittlerweile (also seit ca. 50 Jahren!) durch eine Vielzahl von differenzierteren Annahmen ergänzt, entlang von Bounded Rationality, Institutionenökonomik und Verhaltensökonomik (die übrigens im aktuellen nordrhein-westfälischen Kernlehrplan für Sozialwissenschaften von 2014 und entsprechend in den Schulbüchern absolut gar keine Rolle spielen). Zudem spielt seit etlichen Jahren in in den Wirtschaftswissenschaften eine „empirischen Wende“ (dazu unten mehr) und Evidenzbasierung eine zentrale Rolle, da sich das Fach mittlerweile als umfassendere Verhaltenswissenschaft als noch in den 1980er Jahren begreift. Zuletzt sei die Rückkehr von wirtschaftshistorischen Ansätzen genannt, bei denen der zeitliche und kulturelle Kontext berücksichtigt wird. Gleichzeitig gibt es seit den 1990er Jahren eine weitgehende Abkehr von der formalen Modellbildung.

Zu 2: Das „Magische Viereck“ des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes von 1967 und sein jüngeres, inoffizielles Brüderchen, das „Magische Sechseck“, findet sich in fast jedem Kernlehrplan der Oberstufe – eine der wenigen konkreten inhaltlichen Festlegungen – immerhin! Entsprechend werden weite Teile der Konjunktur- und Stabilisierungspolitik im weiteren Sinne in den Schulbüchern daran aufgezogen. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz entsprang den technokratischen Steuerungsvorstellungen des Keynesianismus der 1960er Jahre, in der Hoffnung, dass man gesamtwirtschaftliche, sich widersprechende Ziele bei ausreichend guter Feinsteuerung miteinander in Einklang bringen kann. Es sah verschiedene gesetzlich festgelegte Maßnahmen zur Stabilisierung vor (Ausgabenminderung, Mehrausgaben, Änderung der Steuersätze, Kreditbegrenzung und Konjunkturausgleichsrücklagen), die in einem vereinfachten und damit zügigen Gesetzgebungs- oder Verordnungsverfahren implementiert werden können (für einen Abriss siehe diesen Artikel auf www.wirtschaftsdienst.eu). Das Gesetz wurde letztmalig 1975 angewendet. Für den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage ist das StabG nur noch von untergeordneter Wichtigkeit. Im Jahr 2015 führte es selbst eine Überprüfung durch und empfahl ein Update in Form von 3D: Digitalisierung, Demografie und Dekarbonisierung als Problemfelder der Wirtschaftspolitik, die sich der SVR genauer anschauen sollte. Für die praktische Wirtschaftspolitik ist das StabG seit den 1990er Jahren ebenfalls weitgehend obsolet. Größere Konjunkturprogramme gab es in dieser Zeit nicht mehr und die Programme ab 2008 (Abwrackprämie, Quantitative Easing u.a.) geschahen am Instrumentenkasten des Stabilitätsgesetzes vorbei. Zwar gab es eine Diskussion um die Wiederbelebung der konzertierten Aktion aufgrund besserer Daten durch die Digitalisierung, dies hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Stand der Dinge in der Fachwissenschaft ist derzeit, dass die Sozialpolitik eine konjunkturell stabilisierende Funktion hat und die Maßnahmen des StabG nicht mehr notwendig seien. Letztendlich steht das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz in keinem engeren Zusammenhang mit der Sozialen Marktwirtschaft, da der Ansatz der detaillierten Globalsteuerung der freiheitlichen Kreativität der ökonomischen Akteure widerspricht. Im März 2024 äußerte der Vorsitzende des ifo-Instituts in München, Prof. Clemens Fuest, uns gegenüber im Rahmen einer Lehrkräftefortbildung weitgehendes Unverständnis darüber, warum man Schülerinnen und Schüler damit noch behellige.

Zu 3: Wenn ökonomische Theorien in den Kernlehrplänen und in Schulbüchern widergegeben werden, dann sind dies fast ausschließlich (und sehr grob) Nachfrage- und Angebotsorientierung. Eine noch jüngst in NRW gestellte Abituraufgaben lautete zum Beispiel: „Stellen Sie die nachfrageorientierte wirtschaftspolitische Konzeption dar (Grundannahmen, Rolle des Staates, Instrumente)“ (MSB NRW: Abiturprüfung 2023, Sozialwissenschaften/Wirtschaft, Grundkurs). Mal abgesehen davon, dass es die eine nachfrageorientierte Konzeption nicht gibt und gab, so muss man festhalten, dass diese grobe Dichotomie aus angebots- und nachfrageorientierten Konzeptionen den wirtschaftspolitischen Debatten der 1970er und 1980er Jahren entspringt, als sich die meisten Ansätze grob diesen beiden Richtungen zuordnen ließen. Von daher machte eine entsprechende didaktische Reduktion der Wirtschaftspolitik damals durchaus Sinn. Seit den 1970er Jahren sind allerdings zahlreiche neuere Theorieströmungen hinzugekommen. Diese Pluralität an Strömungen lassen sich kaum noch in das grobe Schema Nachfrageorientierung vs. Angebotsorientierung einordnen, sind aber heute in Summe bedeutender als diese beiden. Unsere Vermutung, warum diese komplett tote Dichotomie in der Sowi-Fachkultur weiterhin gepflegt wird – neben dem „Das haben wir schon immer so gemacht!“: Man kann anhand der beiden Strömungen der 1970er Jahre prima den Interessengegensatz von Gewerkschaften und Arbeitgebern aufziehen und so letztlich unökonomischen Politikunterricht in Sowi betreiben.

Vor allem anhand des letzten Punktes wird ein weiteres Defizit des heutigen Sowi-Unterrichts aus methodischer und fachdidaktischer Sicht deutlich: Noch 2012 postulierte der Oldenburger Wirtschaftsdidaktiker Hans Kaminski, dass „der Wirtschaftswissenschaftler […] auf das Experiment als wesentliches Erkenntnismittel verzichten“ müsse (Kaminski 2012, 4). Schon damals ging dies vollkommen an der Realität des akademischen Faches vorbei. Bereits zehn Jahre zuvor hatte u.a. der Psychologe Daniel Kahneman den Wirtschafts-Nobelpreis für seine experimentelle Forschung erhalten (was sonst als ein Nobelpreis spricht für die Aufnahme in den wie auch immer abgrenzbaren Mainstream?). „Daten statt Dogmen, auf diesen Nenner könnte man das Leitmotiv der modernen Wirtschaftswissenschaft bringen“, formulierte 2007 Axel Ockenfels im Handelsblatt (Nr. 73, 13). Zwar findet sich dies vom Anspruch her im Sowi-Kernlehrplan von 2014 wieder:

  • „Methodenkompetenz zeigt sich durch die Beherrschung von Verfahren der sozialwissenschaftlichen Informationsgewinnung und -auswertung, der sozialwissenschaftlichen Analyse und Strukturierung“ und
  • „Die Schülerinnen und Schüler […] erheben fragen- und hypothesengeleitet Daten und Zusammenhänge durch empirische Methoden der Sozialwissenschaften und wenden statistische Verfahren an (MK2)“ […] sowie
  • „werten fragegeleitet Daten und deren Aufbereitung im Hinblick auf Datenquellen, Aussage- und Geltungsbereiche, Darstellungsarten, Trends, Korrelationen und Gesetzmäßigkeiten aus […].“ (MSB NRW: KLP Sozialwissenschaften 2014, 31)

Allerdings werden diese übergreifenden Methodenkompetenzen innerhalb der Kompetenzerwartungen der Inhaltsfelder nicht mehr aufgegriffen. In den 40 Abiturprüfungen der letzten zehn Jahre (Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaften/Wirtschaft, jeweils Grund- und Leistungskurs) findet sich das Suchwort „Korrel*“ kein einziges Mal. „Statist*“ und „empir“ findet sich dagegen sehr häufig – allerdings ist die Verwendung problematisch, denn es gibt (mindestens) drei Definitionen von „Statistik“:

  • Definition 1: Umfassendes methodisch-quantitatives Instrumentarium zur Charakterisierung und Auswertung empirischer Befunde bei gleichartigen Einheiten („Massenphänomenen“) […], in denen mit Zahlen oder Bewertungen gearbeitet wird.
  • Definition 2: Ergebnisse statistischer Untersuchungen werden ebenfalls als Statistik bezeichnet.
  • Definition 3: Statistik findet darüber hinaus auch Verwendung als Synonym für Schätzfunktion.
    (https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/statistik-45267, unsere Hervorhebungen)

Die Methodenkompetenz laut Kernlehrplan (s.o.) hebt vor allem auf die erste und ansatzweise dritte Definition ab – die Schülerinnen und Schüler sollen Daten auswerten. Die Abituraufgaben (und nebenbei auch fast alle Schulbücher) zielen aber auf Definition 2 ab: Verarbeiten von Ergebnissen statistischer Analysen. Im Grunde müsste man dieses Material aber treffender als „Daten“ bezeichnen, nicht als „Statistik“.

Auch unsere Schulbuchanalyse von 2024 zeigte, dass Material überwiegend Textmaterial ist und methodisch die Textanalyse im Mittelpunkt vor allem der sozialwissenschaftlichen Integrationsfächer steht. Und schon 2007 konstatierte der damalige Sowi-Fachleiter Frank Langner: „Statt vertieft ökonomische Sachverhalte und Zusammenhänge datenbasiert zu erforschen und ökonomische Theorien zur Erklärung vorgefundener Auffälligkeiten sowie vermuteter Regelmäßigkeiten heranzuziehen, wird der Lernprozess weitgehend auf die Lektüre wirtschaftlicher Texte (Informationstexte und Kommentare) reduziert, allenfalls angereichert durch einzelne Statistiken. (…) Diese Monokultur zeichnet sich durch ein Übermaß an Textarbeit aus – und dies auch in solchen Fällen, in denen andere Herangehensweisen lernförderlicher wären“ (Langner 2007, 47f.; auch Langner meint hier vermutlich „Statistiken“ im Sinne von Daten). Diese Praxis ist leider durchweg kongruent mit der Forderung der Sowi-Didaktiker/innen Engartner, Hedtke und Zurstrassen, die 2010 in „Sozialwissenschaftliche Bildung. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft“ postulierten: „Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt sozialwissenschaftlicher Bildung: Textanalyse“ (S. 136). Dass dies angesichts sehr ungleich verteilter Lese- und Textanalysekompetenz zwischen sozialen Gruppen latent ungerechten Unterricht zur Folge hat, der bestehende Bildungsungleichheiten weiter verstärken kann – das ist ein Thema für einen weiteren Blogbeitrag (siehe diesen Beitrag). Es bleibt festzuhalten, dass die Fachkultur in Sachen Anspruch und Wirklichkeit weit weg von dem ist, was methodisch aus Sicht der Wirtschaftsdidaktik und der Fachwissenschaft angemessen wäre – dabei könnte das Fach Wirtschaft oder Sozialwissenschaften DAS Fach für die so genannte data literacy sein! Damit meinen wir nicht nur Daten auswerten, sondern Daten selbst erheben und verarbeiten und deren Entstehung zu hinterfragen! Und selbst dies ist in der Ökonomik hochaktuell: “Russ Roberts, an economist at the Hoover Institution and host of the popular EconTalk podcast, wrote an influential piece in 2017 rejecting the move toward empirical research as doomed to mire the discipline in intractable disputes over reading data. ‘Numbers don’t speak on their own,’ he warned. ‘There are too many of them. We need some kind of theory to help us decide which numbers [to] listen to. […]’ He denounced most empirical economists as mere ‘applied statisticians’.” (vox.com, https://www.econtalk.org/econtalk-1000-with-russ-roberts/). Für data literacy müssten aber die Lehramtsstudierenden durchweg tiefer ausgebildet werden (zum Beispiel in einem separaten Fach Politik – Hauptsache Substanz!), wofür angesichts der Breite des Fachs Sozialwissenschaften und des vollkommen veralteten Kernlehrplans aber häufig kein Platz ist.

Zeit also für eine Rückbesinnung – wiederum auf die 1970er Jahre: „Fachdidaktik ist im Fach verwurzelt. Sie verbindet das Fach mit der Schulpraxis. Zu ihren Aufgaben gehört […] festzustellen, welche Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden der Fachwissenschaft Lernziele des Unterrichts werden sollen, […] den Inhalt der Lehrpläne daraufhin immer wieder kritisch zu überprüfen, ob er den neuesten Erkenntnissen fachwissenschaftlicher Forschung entspricht“ (Deutscher Bildungsrat 1970, S. 225).

Marco Rehm, ZÖBIS, Juni 2025

Literatur

Deutscher Bildungsrat: Strukturen für das Bildungswesen. Stuttgart 1970.

Engartner, Tim; Hedtke, Reinhold; Zurstrassen, Bettina: Sozialwissenschaftliche Bildung. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft. Paderborn 2010.

Goldschmidt, Nils; Kron, Romina; Rehm, Marco: Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern. Eine Analyse der ökonomischen Inhalte in deutschen Schulbüchern. Potsdam und Berlin 2024.

Hedtke, Reinhold (2008): Konzepte ökonomischer Bildung. Bielefeld 2008 (online veröffentlicht unter http://www.uni-bielefeld.de/soz/ag/hedtke/pdf/hedtke_konzepte-oek-bildung)

Hedtke, Reinhold: Paradigmatische Parteilichkeit, lückenhafte Lehrpläne und tendenziöses Unterrichtsmaterial? Ergebnisse einer Studie zu Gestalt und Gehalt sozio/ökonomischer Bildung. Düsseldorf 2016

Tafner, Georg: Wirtschaftshermeneutik einer reflexiven Wirtschaftspädagogik. In: zfwu, 21, 3, 2020, S. 224-249