Reise ins Nichts
Aufgabe:
Quelle: Wirtschaft und Politik, Cornelsen, 2023, S.27
„Begib dich auf eine Innere Zeitreise. Was denkst du, wie es den Menschen erging, bevor die gesetzlichen Sozialversicherungen eingeführt worden? Trage deinen Mitschülerinnen und Mitschülern eine eindrucksvolle mündliche Geschichte vor.“
Ein von mir seit langem gehegter Eindruck von etlichen Aufgaben in Schulbüchern für Sozialwissenschaften und andere sozioökonomische Integrationsfächer ist der, dass diese die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig unter- und überfordern – je nachdem, wie man die Aufgabe angeht. Das Fundstück des Monats oben ist dafür ein gutes Beispiel. Es bietet geringe Einstiegshürden und ist in Sachen Lösungsweg und Lösung vollkommen offen, denn irgendetwas wird sicher jedem und jeder dazu einfallen – schließlich benötigt man an Arbeitsmaterial nicht viel mehr als seine Phantasie und etwas zu Schreiben. Konkrete inhaltliche Qualitätskriterien oder Aspekte werden in der Aufgabe nicht definiert. Bis auf die Information, dass Arbeiter vor den Reformen staatlicherseits sozial kaum abgesichert waren (kommunale Armenkassen gab es zwar bereits, die Info kann man für die Aufgabe aber auch vergessen), muss man nicht viel wissen – die Aufgabe ist also nicht besonders vorwissenintensiv.
Gleichzeitig ist die Aufgabe vollkommen überfordernd, denn wenn man sie ernst nimmt, ist sie nicht machbar. Sich im Fach Sozialwissenschaften in den historischen Kontext von Personen einzudenken, die vor 150 Jahren gelebt haben, sowie in deren „Kopf“ zu schlüpfen, ist „mal eben“ in einer Sozialwissenschaftsstunde nicht machbar. Stichwort: „Die Vergangenheit ist ein fremdes Land; dort gelten andere Regeln“ (J.P Hartley 1952, wenn auch Prosa statt Historiografie). In der uns benachbarten Geschichtsdidaktik ist diese Art der Aufgaben nach dem Motto „wir schreiben uns unsere eigenen Quellen“ folglich hochgradig umstritten (siehe Pandel, S. 448), übrigens auch, weil sie den akademischen Standards in der universitären Ankerdisziplin vollkommen zuwiderläuft – die Historiografie schreibt sich eben ihre Quellen nicht selbst.
Bestimmt ist das Anliegen der Autorinnen oder Autoren der Aufgabe lauter: Es ist der Versuch, auf konstruktive Art und Weise ein affektives Lernziel zu erreichen. Diese werden im Unterricht selten adressiert (sage ich aus über sechs Jahren Schulerfahrung auch im Fach Geschichte und mit Wissen über etliche Schulbücher). Allerdings wird beim vorliegenden Fundstück die Fachlichkeit vollkommen über Bord geworfen. Denn ungeachtet der gleichzeitigen Über- und Unterforderung bleibt vollkommen unklar, welches fachliche Lernziel überhaupt adressiert werden soll. Aus wirtschaftsdidaktischer Sicht ist die Methode der inneren Zeitreise nicht in den Kanon der sinnvollen Methoden aufgenommen worden (dabei sind selbst in den Bänden von Retzmann (2007 und 2011) und Arndt (2013) sehr viele eher randständige Methoden vertreten), auch nicht in den Kreis der im engeren Sinne domänenspezifischen Methoden des Wirtschaftsunterrichts, die sich an die Methodik der universitären Ankerwissenschaft anlehnen (Weyland und Stommel 2016). Auch für die Politikwissenschaft oder die Soziologie ist mir nicht bekannt, dass die innere Zeitreise von den Kolleginnen und Kollegen dort mehr oder weniger regelmäßig praktiziert würde.
Besser wäre daher an dieser Stelle gewesen, die Gelegenheit zu fächerübergreifendem Unterricht zu nutzen und eine historische Quelle aus der Zeit vor den Bismarck’schen Sozialreformen zu nutzen. Wer als Sowi-Lehrkraft selbst nichts zur Hand hat: Die Geschichtskolleginnen und -kollegen helfen sicher gerne – vielleicht kommt ja eine/r von ihnen sogar mit in die betreffende Stunde! Damit wäre sicher dem hier vermuteten Lernziel, die Bismarck’schen Reformen in ihrer wirtschaftshistorischen Bedeutung einzuordnen, besser gedient gewesen, als sich eine Quelle selbst zu schreiben und diese im Unterricht vorzutragen.
Ach ja – fast hätte ich es vergessen: die Aufgabe richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 und 10 des Gymnasiums! Diese sind sicher zu mehr fähig, als sich im Politik- oder Sowi-Unterricht eine Geschichte auszudenken. Fragen sie mal die Kolleginnen und Kollegen aus den Naturwissenschaften. Deren Inhalte kann im Zweifel nicht der Klassenlehrer unterrichten.
Marco Rehm, ZÖBIS 2025
Literatur
Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsdidaktik: eine Theorie für die Praxis. Schwalbach/Ts., 2013
Weyland, Michael & Stommel, Philipp (2016): Kompetenzorientierung 2.0 – Domänenspezifische Lernaufgaben für die ökonomische Bildung. In: Zeitschrift für ökonomische Bildung, 5, S. 94–118.
Retzmann, Thomas (Hrsg.) (2007): Methodentraining für den Ökonomieunterricht Band 1, Frankfurt.
Retzmann, Thomas (Hrsg.) (2011): Methodentraining für den Ökonomieunterricht Band 2, Frankfurt.
Arndt, Holger (2013): Methodik des Wirtschaftsunterrichts. Opladen.