Anforderungsbereich Null

„Begib dich auf eine innere Zeitreise. Was denkst du, wie es den Menschen erging, bevor die gesetzlichen Sozialversicherungen eingeführt worden? Trage deinen Mitschülerinnen und Mitschülern eine eindrucksvolle mündliche Geschichte vor.“

Quelle: Wirtschaft und Politik, Cornelsen, 2023, S.27

Arbeitsaufträge wie dieser (siehe auch diesen Blogbeitrag) schicken auch die Lehrenden auf eine innere Reise: Als ehemalige oder aktuelle Lehrkräfte sehen wir vor unserem inneren Auge entweder weinende Referendare und Referendarinnen oder Kollegen und Kolleginnen mit der Kaffeetasse auf dem Pult und – im besten Fall – sich friedlich aber anderweitig beschäftigende Schülerinnen und Schüler. Dennoch werden Aufgaben wie diese jeder Lehrkraft für Sozialwissenschaften, möglicherweise auch Lehrkräften anderer Fächer, bekannt vorkommen. Solche Aufgaben halten sich sogar tapfer in den Schulbüchern. 

Bei Aufgaben für den Unterricht werden üblicherweise drei Anforderungsbereiche (kurz AFB) unterschieden: Aufgaben im AFB I dienen dem Erwerb oder der Reproduktion von Kenntnissen, Aufgaben im AFB II deren Anwendung und Aufgaben im AFB III umfassen Meinungsbildung und Problemlösung. 

Als wir Schulbücher untersuchten, stießen wir deshalb auf ein Problem: Die „innere Reise, wie es den Menschen erging“ ist definitiv nicht Anforderungsbereich III. Aber was ist mit Anforderungsbereich II oder I? Material, das man wiedergeben oder anwenden könnte, wird nicht gegeben (deshalb ja die „innere Reise“) und auch das Gedächtnis der Lernenden reicht nicht in die Zeit vor der gesetzlichen Sozialversicherung zurück – manchmal reicht das Erinnerungsvermögen von so manchem Pubertierenden nur bis zur ersten Pause zurück.

Aber welches Ziel verfolgt diese Aufgabe eigentlich? Die Aufgabe zielt darauf ab, persönliche Schicksale aus einer fremden Zeit zu erfinden. AFB I und II scheiden also auch aus. Der Gedanke, eine Quelle selbst zu schreiben, lässt einer oder einem Historiker/in zudem die Gesichtszüge entgleisen.

Haben wir es hier also folglich mit AFB 0 zu tun?

Operatoren dienen dazu, den Lernprozess und die damit verbundenen Handlungen in Form eines Lernergebnisses sichtbar zu machen. Der Anforderungsbereich 0 stellt dabei keine nennenswerte kognitive Herausforderung dar. Ein weiteres Problem besteht darin, dass ein AFB-0-Operator nicht messbar ist. Als Lehrkräfte können wir beispielsweise nicht beobachten, wenn Lernende gedanklich auf eine Zeitreise gehen, es sei denn, wir befänden uns in einem Science-Fiction-Szenario wie in Zurück in die Zukunft oder auf einer Reise mit Captain Picard im Weltall.

Das Motiv hinter dieser Aufgabe mag ja ehrenwert sein: In der didaktischen Praxis braucht es während des Lernprozesses Aufgaben mit niedriger Anforderungsschwelle – sozusagen einen kognitiv barrierefreien Zugang zum Unterrichtsstoff, besonders für diejenigen, die wenig Vorwissen aus dem Elternhaus mitbringen. Aber gerade diese Schüler/innen brauchen Input statt Selbsterforschung. Und diesen Input zu liefern, ist eine der Kernaufgaben der Lehrkraft. Ohne Input wird aus der beabsichtigten Unter- schnell eine Überforderung. Unser Kollege Rehm hat bereits einen Artikel zur Über- und Unterforderung in diesem Blog verfasst: Die Reise ins Nichts 

Aus diesen Gründen verwenden die Autorin und die Autoren dieses Blog-Beitrags übrigens auch selten den Arbeitsauftrag „Recherchiere im Internet“. Natürlich ist es nicht sinnvoll, Material aus einem Schulbuch zu verwenden, das beim Druck schon veraltet war – aber dann geben wir als Lehrkräfte den Schülerinnen und Schülern je nach Ausstattung eine Kopie von oder den Link zu einem aktuellen Material. Wenn wir die Schülerinnen und Schüler hingegen wirklich recherchieren lassen, dann ist die Recherchekompetenz oder die Quellenkritik Gegenstand des Unterrichts – und damit die Fachmethode. Auf die Ergebnisse einer echten Recherche hat man seinen Unterricht aber spätestens dann zum letzten Mal aufgebaut, wenn diese Ergebnisse das erste Mal klausurrelevant waren. Eine „innere Reise“ ist zudem keine Fachmethode der Ökonomik, der Politikwissenschaft, der Soziologie und auch nicht der Geschichtswissenschaft – die innere Zeitreise vermag bei Heranwachsenden nach einem feucht fröhlichen Abend am nächsten Morgen stattfinden, wenn mithilfe des Smartphones rekonstruiert wird, was in der Nacht von Freitag auf Montag passiert ist. 

Wir plädieren dafür, beim bewährten Muster zu bleiben, nämlich im Lernprozess und in Prüfungen Aufgaben auch im AFB I, im Unterricht vor allem im AFB II und als roten Faden des Unterrichtsvorhabens oder zu dessen Krönung Aufgaben im AFB III zu stellen. Sobald aber Operatoren wie „Stell dir vor“, „Erklärt euch gegenseitig“ oder „Erkundige dich“ ins Spiel kommen, macht die Lehrkraft ihre Arbeit nicht, da sie das Gelingen der Anforderungsbereiche I und II in die Hände der Schülerinnen und Schülern legt – und damit oft wieder in die des Elternhauses. Bildungsungerechtigkeit wird so verstärkt statt reduziert. 

Nicht ganz ernst gemeint haben wir uns weitere Operatoren für die Anforderungsbereiche -1 bis 0 inklusive entsprechender Definitionen überlegt. Übrigens: Ein Teil der Operatoren stammt tatsächlich aus Schulbüchern.

AFBOperatorDefinition
0bewusstwerdenwie nachdenken, aber ohne Inhalte
0erkennen so tun, als würde man eine höhere geistige Leistung vollbringen. Beobachtbar wird „erkennen“, wenn die Lernenden im zufällig richtigen Moment „Aha!“ oder „oh“ sagen
0einfühlenSachverhalte, Strukturen oder Prozesse kriterienfrei und emotionalisiert unter Akzeptanz kognitiver Überforderung deuten
0aufmerksam durchlesenwie lesen, aber mit zu wenig Material für die zur Verfügung stehende Lernzeit oder mit erwarteter Überforderung der Lernenden
0unterstreichen die Kenntnisnahme von Wörtern dokumentieren
-1 in sich gehen ungerichteter Aufenthalt im Kurs- oder Klassenraum ohne den Lernfortschritt anderer zu behindern 
0offen sein fürsich innerlich auf schlecht oder nicht vorbereiteten Unterricht vorbereiten
-1sich gedanklich auf die Reise begeben … und überlegen …wie Gedanken machen, aber mit mehr Nebensächlichkeiten
-0,5sich zunächst Gedanken machenZeit bis zum Beginn des Kompetenzerwerbs überbrücken oder sich fragen, was man gerade überhaupt machen soll
0sich einlassen aufwie offen sein, aber mit größerer Resignation 

Autor/innen:

Marco Rehm, Gregor Pallast, Romina Kron

Literatur:

Goldschmidt, Nils, Kron, Romina, Rehm, Marco (2024): Marktwirtschaft und Unternehmertum in Schulbüchern. Eine Analyse der ökonomischen Inhalte in deutschen Schulbüchern. Berlin und Potsdam.