Zur falsch verstandenen Handlungsorientierung im allgemeinbildenden Schulwesen.
„Erstellt ein kleines, möglichst witziges Rollenspiel zu einem Dialog mit einem Chatbot.“
Quelle: Klett Einblicke Wirtschaft, 2023, S. 187
Am ZÖBIS bin ich als die bekannt, die „etwas mit Schulbüchern macht“. Das heißt ich analysiere, interpretiere, beurteile, bewerte und nehme Stellung zu diesen Büchern und erstelle dementsprechend mit meiner Arbeit verschiedene wissenschaftliche Handlungsprodukte . Während dieser Arbeit bin ich über die oben genannte Aufgabe gestolpert. Also sezieren wir nun diese Aufgabe:
Eingebettet ist die Aufgabe im Überkapitel „Organisieren und arbeiten in Unternehmen“ (Klett Einblicke Wirtschaft, 2023, S. 7) und genauer lässt sich die Aufgabe im Unterkapitel „Es ändert sich etwas – in Industrie und Verwaltung“ verorten. In diesem Kapitel geht es grob darum, wie sich Industrie und Verwaltung durch den technischen Fortschritt verändern – natürlich auch in besonderem Maße durch KI. Zunächst begrüße ich es, dass die aktuellen Schulbücher bereits die KI und weitere Entwicklungen berücksichtigt. Jedoch habe ich als Berufsschullehrerin sowie als Wirtschaftsdidaktikerin ein Problem mit dieser Aufgabe.
Um die Komplexität zu reduzieren, prüfen wir die Handlungsorientierung anhand folgender zwei Punkte:
- Ist eine problemhaltige Situation mit altersangemessener überschaubarer Komplexität vorhanden?
- Hat das Ergebnis, das Handlungsprodukt der Schüler:innen, für die Lehrer:in und die Lernenden einen erkennbaren „Gebrauchswert“ (s. Handlungsorientierung)?
In der beruflichen Bildung ist es so, dass wir zu Beginn eines Kapitels oder eines Unterkapitels mit einer Situation starten. Im Unterkapitel „Es ändert sich etwas – in Industrie und Verwaltung“ findet sich keine Situation und zunächst erstmal kein Problem, das von den Lernenden analysiert werden könnte. In vier kürzeren Texten wird zunächst beschrieben, dass sich in den nächsten Jahren durch leistungsfähige Computer Produktionsprozesse stark verändern können. Danach werden Industrie 4.0 (KI) und 3-D-Drucker beschrieben sowie die KI in der Verwaltung vorgestellt und wie diese die Automatisation vorantreiben. Ein Problem lässt sich in den erklärenden Texten nicht erkennen. Auch gibt es keine Fragestellung innerhalb des Kapitels, die auf ein Problem hindeuten könnte. Könnte die Methode das Problem sein? – Nein, leider nicht! Bereits in vorherigen Kapiteln wurde die Methode des Rollenspiels genutzt. Von daher kann keine problemhaltige Situation mit einer überschaubaren Komplexität festgestellt werden. Also wieso dann diese Handlungsaufgabe oben?
Und nun zum Handlungsprodukt selbst – dem Rollenspiel mit dem Chatbot.
Aufgabenstellung: „Erstellt ein kleines, möglichst witziges Rollenspiel zu einem Chatbot.“ Klingt erstmal unterhaltsam. Und ja, Humor darf im Unterricht seinen Platz haben (siehe Beziehungsdidaktik, Reich)! Aber fachdidaktisch wird es an dieser Stelle dünn. Warum?
Ein „witziger Dialog“ mit einem Chatbot suggeriert eine fast vermenschlichende Darstellung eines technischen Sprachmodells – ohne dass zuvor erklärt wird, was ein Chatbot eigentlich ist, wie er funktioniert und wo seine Grenzen liegen. Wenn Lernende ohne kritische Einbettung ein Rollenspiel gestalten, das auf Humor oder Ironie abzielt, wird eine kritische Auseinandersetzung mit KI und ihrer Rolle in Wirtschaft und Verwaltung gerade nicht angeregt. Stattdessen droht ein eher oberflächliches Spiel mit einem vermeintlich „lustigen Computerfreund“.
Das Problem liegt also nicht nur im fehlenden Gebrauchswert – sondern auch in der impliziten Aussagekraft der Aufgabe:
Sie verharmlost und verniedlicht ein komplexes technisches System, das tiefgreifende Auswirkungen auf Arbeitsprozesse und Berufsrollen hat. Die Schüler:innen bleiben in der Rezeption von KI auf einer Spiel- oder Gag-Ebene stehen, anstatt fundiert zu verstehen, was Chatbots können – und was nicht. Weder wird eine problemorientierte Auseinandersetzung angestoßen noch eine produktive Anwendung gefördert.
Und genau hier schließt sich der Kreis zur Frage des erkennbaren Gebrauchswerts:
In der beruflichen Bildung ist das Handlungsprodukt nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck von erworbenen Kompetenzen. Lernende entwickeln zum Beispiel einen Werbeplan, den sie praktisch umsetzen – oder fertigen in handwerklichen Berufen ein Produkt, das greifbar und funktional ist. Ein Stuhl ist zum Sitzen da. Ein Werbeplan strukturiert eine Kampagne. Beide haben eine fachliche Substanz und damit kann man deren Erstellung im Berufsschulunterricht fachdidaktische easy legitimieren. Das sogenannte Rollenspiel mit dem Chatbot hingegen bleibt isoliert – ohne Transferleistung, ohne kritische Tiefe, ohne erkennbaren Nutzen.
Ein Stuhl ist zum Sitzen da. Ein Tisch, um diesen zu flippen, wenn ich mal wieder Aufgaben in Schulbüchern lesen darf, die keinen tieferen Mehrwert besitzen.
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Romina Kron, ZÖBIS, August 2025